Yvonna stieß die schwere Holztür auf. Ihr schmales Gesicht war
von Wut verzerrt und die schwarzen Augen funkelten wie
die
Freudenkerzen zur Wintersonnenwende. Im großen
Gemeinschaftsraum war es dämmrig. Yvonnas Augen waren vom hellen
Glanz der Sonne noch geblendet. Hilflos stand sie einen Moment, im
Rücken, wie einen Bilderrahmen, die sonnendurchflutete Tür.
Rona ahnte nichts Gutes. Diese Auftritte ihrer Tochter waren in der
letzten Zeit schon fast ein tägliches Ritual. Töchter in
diesem Alter sind wohl so, dachte sie sich. „Olkor hat seinen
Ball genau über mein Sandbild gerollt. Dann hat er auch noch
gelacht!“, schimpfte Yvonna los. Rona fing ihre Tochter ein,
setzte sich auf den Schemel beim Herdfeuer und zog das Kind auf ihren
Schoß. „Yvo, meine Sonne, was war es denn für ein
Bild?“, versuchte Rona vorsichtig vom Thema abzulenken. Mit
einem kleinen Seufzer erzählte das Kind ihr von den bunten
Blumen, die auf dem Bild erblühten, und dem schönen Haus
aus Steinen. Ebenso ein Haus, wie sie später eines bewohnen
wollte. Yvonna verachtete das grobe Holzhaus in dem sie jetzt
wohnten. Obwohl sie noch keine drei Jahre gewesen war, konnte sie
sich noch an das Haus in der Hauptstadt Kollberg erinnern. Es war ein
prächtiges Steinhaus mit einem Keller für die Vorräte
und einem großen Dachboden, um sich darin zu verstecken. Doch
jetzt, eine große Hütte aus rohen Stämmen und zu
ebener Erde. Nur das Dach war schön. Wenn die kalten Winde
wehten, pfiffen sie ihre Lieder in den hohlen Stängeln der
Schilfschindeln. Trotzdem eine edle Familie wie die ihre sollte nicht
hier leben.
Die
Tankots waren einst eine angesehene Familie, sogar mit dem Königshaus
verwandt. Doch vor acht Jahren geschah das Unheil. Wie alle Jungen in
Großwiet wurde auch Olkor der ersten Prüfung unterzogen.
Nur wer sie bestand durfte eine Schule besuchen. Für einen
kleinen Jungen von gerade sechs Jahren war das eine große
Aufregung. Einen ganzen Tag fort von zu Hause, getrennt von der
Familie, im großen, grauen Schulhaus eingesperrt. Ganz ohne
jede Hilfe den Forderungen der Lehrerin ausgeliefert. Olkor gab sich
große Mühe. Zu große Mühe. Alles fing gut an.
Er malte einen Baum und den Drachen von Gool. Einen besonders schönen
Drachen. Genau waren die großen goldglänzenden Schuppen zu
erkennen und auch der Strahl von blauem Feuer, den er ausspie, war
prächtig. Das Sortieren der Stäbchen aus Hongarholz erst
nach den Farben und dann nach den Längen war nur ein Spiel. All
dies wurde nur von der Lehrerin beobachtet. Die nächste Aufgabe,
Türme aus verschiedenen Steinen aufzubauen, war ein Wettspiel,
an dem alle Jungen beteiligt waren. Olkor merkte schnell, dass andere
schneller waren als er. Und plötzlich geschah etwas, was sein
Leben und das seiner Familie für immer verändern sollte.
Als der Junge merkte, dass sein Turm zu wanken begann, hielt er ihn
beim Weiterbauen einfach oben fest. Ungewöhnlich daran war nur
womit er sein Bauwerk stützte. Er konzentrierte sich auf die
Vorstellung einer dritten Hand, die den Turm umfasste. Sicherlich
wäre es den Lehrerinnen nicht aufgefallen. Doch als die meisten
Jungen bereits ausgeschieden waren, war es nicht mehr zu übersehen.
Olkors Turm konnte nicht wirklich so stehen, wie er es tat. Hier war
Magie im Spiel.
Seit den
Tagen der Alten, als noch die goldenen Drachen flogen, hatte die
Magie nicht viel Gutes für die Menschen in Wiet gebracht. Die
mächtigen Magier der alten Zeit waren unbarmherzige Herrscher
gewesen. Erst als die großen Drachen die Magier mit sich
fortnahmen, kehrte der Frieden wieder. Doch die Magie war ein Fluch.
Und immer kehrte sie zurück; versteckt in den Körpern
unschuldiger Kinder schlich sie sich ins Land. Darum werden Magier
ohne Gnade in den Norden verbannt. Dort ist das Leben hart und wer
überleben will hat keine Zeit für Magie.
Die
Reiter des Rates kamen und schlugen das Bannkreuz an die Haustür
der Familie. Das Zeichen der blauen Flamme mit dem goldenen Drachen
war Fluch und Segen zugleich. Jetzt waren sie eine Woche geschützt.
Die Reiter würden kein Unrecht zulassen. Niemand durfte aus
Angst oder Hass der Familie Schaden zufügen oder sie auch nur
beleidigen. Denn die Verbannung der Magier war keine Strafe. Es war
der Schutz aller vor dem, was einst Unheil brachte. Am achten Tage
aber waren sie frei. Keiner durfte ihnen zur Hilfe eilen. Nur wenn
sie reisten waren sie geduldet. Es blieb nur eine Woche, um die Habe
zu packen und auf die lange Reise nach Nordwiet zu gehen. Weit fort
in das eisige Land der Verbannten.
Yvonna
verstand nicht, warum sie bestraft wurde nur weil ihr Bruder bei der
ersten Prüfung einen Turm falsch aufgebaut hatte. Sie hatte
Olkor nie Magie wirken sehen. Er war doch nur einfach ihr Bruder, von
den Göttern geschaffen, einzig um sie ständig zu ärgern.
Bei Gool, dieser Aufgabe wurde er wirklich gerecht. Es verging kein
Tag, der nicht sein Drama hatte. Ronas Langmut und die Geduld eines
Hyfen verhinderten, dass sich die Geschwister ernsthaft überwarfen.
Doch wenn
die Waffen ruhten, war das Geschwisterpaar ein Herz und eine Seele.
Das war auch nötig, denn sie mussten oft allein zurechtkommen.
Wenn der Vater in die Berge ging um Erz zu brechen und die Mutter
Hongarholz für ihre Schüsseln und anderen Küchengeräte
sammelte, war niemand da, der sie beschützte oder einen Streit
schlichten konnte. Alle in der Familie hassten die Zeiten der
Trennung. Aber Jeman, der Eisenformer, brauchte Erz. Ohne Erz kein
Eisen, ohne Eisen keine Nahrung. In Nordwiet wuchs nicht genug, um
davon leben zu können. Die langen Winter und die nasskalten
Sommer, der Felsboden und die tiefen Wolken. Sie nahmen allen
Pflanzen den Mut zu wachsen. Nur Hongarbäume gab es. Diese
Riesen brachen mit ihren Wurzeln den steinigen Boden auf. Ihre Wipfel
erstreckten sich wie gewaltige Dächer hoch im Himmel. Das Holz
war hart. Nicht einmal Jemans beste Axt konnte es spalten. Nur Barum,
der ewig trunkene Gott er Winde, brach schon mal den einen oder
anderen Ast ab. Ein Glück für Rona. Sie sammelte das Holz
und formte daraus Teller, Schüsseln und Besteck. Einzig die
Lavakristalle aus Jemans Erzhöhle konnten das Holz schneiden.
Kunstvoll schmiedete er die funkelnden Kristalle in die
Meißelschneiden. Zwar wären die Kristalle in Kollberg ein
Vermögen wert gewesen, doch auf den Märkten von Nordwiet
war Schmuck nicht gefragt. Ein Topf aus Eisen und ein Napf aus
Hongarholz waren wichtiger als ein Edelstein auf der Stirn. Er würde
ohne die Sonne hier im Lande der Dämmerung ohnehin nie funkeln
und strahlen können.
Von
Zeit zu Zeit nahm Rona die Kinder mit zu den Bäumen. Sie holten
den Wagen unter dem Wetterdach hervor. Jeman hatte ihn gebaut. Die
Räder waren groß und mit Eisenreifen beschlagen. So konnte
man ihn auch über Felsen und Steinhalden ziehen. Mit dem leeren
Gefährt im Schlepp zogen sie los um Blätter zu sammeln. Die
Blätter der Riesenbäume wuchsen im Sommer wie im Winter.
Waren sie alt fielen sie zu Boden. Sie waren fingerdick und so groß
wie die Hand eines erwachsenen Mannes. Wenn sie aus der Höhe der
Wipfel kommend den Boden trafen gruben sie sich tief in die Erde ein.
Nur ihr herbsüßlicher Harzgeruch verriet ihr Versteck.
Diese holzigen Geschosse der Hongarbäume waren ein idealer
Brennstoff. Vor allem die Sommerblätter quollen förmlich
von Harz über. Sie waren für das Feuer eigentlich zu
schade. Wenn Rona sie zu Hause vorsichtig erhitzte tropfte das Harz
heraus. Damit konnte man Gewebtes tränken und bekam regenfeste
Kleidung, in diesem Land lebenswichtig. Wenn der Wagen voll war
mussten sie sich alle drei in die Schlaufen vorn am Wagen hängen
und gemeinsam mit aller Kraft ziehen. Noch schlimmer war es dann den
Abhang zum Haus hinunter. Den vollen Wagen aufzuhalten, wenn er erst
einmal rollte, war schier unmöglich. Ein solcher Fehler kostete
viel Zeit. Denn das führerlose Gefährt geriet schnell aus
der Bahn und stürzte um. Jetzt hieß es alles aus dem
Inneren herausräumen, denn Wagen aufrichten und alles wieder
hinein. Doch seit Yvonna etwas größer geworden war,
reichten ihre Kräfte meist aus ein solches Malheur zu
verhindern.
Es war
wieder einmal soweit. Rona schickte Olkor den Wagen zu holen. Die
drei Haken lagen auf dem Tisch und Yvonna zog ihre älteste Robe
an. Immer, wenn sie mit dem Haken die harzigen Sommerblätter aus
dem Boden zerrte, war ihr Bauch mit einer dicken Schicht einer
klebrigen Masse aus Harz, Tuchfasern und Erde bedeckt. Solche Robe
konnte eine heranwachsende junge Dame natürlich nicht weiter
tragen. Das Wetter war ihnen wohl gesonnen. Keine Wolke drohte mit
Regengüssen. Doch wer Nordwiet kannte, lobte den Ausflug nicht
vor der Heimkehr. Rona legte, nur zur Sicherheit, für jeden ein
geharztes Tuch auf den Wagen. Sie zogen nach Westen, den alten
Wäldern entgegen. Dort war der Boden sehr hart, der Wagen rollte
gut und die Blätter schauten meist zur Hälfte aus der Erde.
Wenn man
sich in der Nähe des Waldrandes hielt, brauchte man auch keine
Angst vor den Kahlen zu haben. Sie scheuten das Tageslicht und
verließen den Wald nie ganz. Die Kahlen waren sehr einfache
Wesen. Sie hatten weder Haare noch Fell. Ihre derbe nackte Haut
bedeckten sie nur im Winter mit ungegerbten Fellen der braunen
Waldkatze. Wenn sie durch den Wald zogen machen sie Jagd auf alles,
was sie für essbar hielten. Es war fast unmöglich ihnen zu
entkommen. Kein Laut verrät der Beute die Nähe der Jäger.
Die Kahlen haben keine Stimmen. Obwohl erzählt wurde die Jungen
würden nach der Geburt schreien, wie ein menschliches
Neugeborenes. Doch wenn ein Menschenkind zu sprechen begann,
verstummte ein kleiner Kahler für immer. Keiner wusste, was an
den Legenden Wahrheit und was Dichtung war. Rona hatte aber auch
nicht die Absicht es heraus zu finden. Schnell füllte sich der
Wagen. Als die Sonne im Mittag stand, hatten sie die Ladung
vollständig. Neben einem Dornfruchtstrauch war ein kleiner
Flecken mit Gras. Hier ließen sie sich zu einer Rast nieder.
Ein guter Platz, denn im Strauch lebte eine Gruppe Hyfenohren. Ihre
Späher flatterten immer in die höchsten Zweige und machten
ein gewaltiges Spektakel, wenn sich etwas dem Rastplatz des
Vogelschwarmes näherte. Bliebt man eine Weile in Sichtweite,
ohne zu dicht an den Strauch heran zu gehen, beruhigten sich die
kleinen Tiere. Jetzt konnte man sich unter ihrem Schutz sicher
fühlen. Kein Kahler würde ungesehen herankommen.
Noch
während der Rast zogen dunkle Wolken auf. Ihre ausgefransten
Ränder griffen wie riesige Finger Stück um Stück das
Blau des Himmels, bis sie auch die Sonne verdunkelten. Ein warmer
Wind wehte aus dem Wald und trug den betäubenden Duft der
Hongarharzes mit sich. Im Dornfruchtstrauch wurde es still. Eine
merkwürdige Last legte sich auf die drei Rastenden. Etwas war
anders, es war kein üblicher Sommerregen, der sich da
ankündigte. Und wieso wehte der Wind aus dem alten Wald, das tat
er nie. In den Tiefen dieser riesigen Ansammlung von gewaltigen
Hongarbäumen brach sich jeder Luftzug. Was, im Namen von Gool,
passierte hier?
Nur eine
Erklärung blieb Rona und die mochte sie nicht einmal denken.
„Der alte Wald brennt!“
Yvonna
stand auf, blieb erstarrt stehen und blickte irgendwo in den Wald.
„Sie schreien“, sagte sie leise, „Sie schreien
alle!“. „Wer schreit?“, fragte Rona, die keinen
Laut hören konnte. „Die Kahlen, sie kommen und schreien.“.
Das Mädchen schloss die Augen und fiel vorn über auf den
Boden. Olkor beugte sich über seine Schwester und lauschte nach
ihrem Atem. „Sie lebt, aber sie ist so blass.“ Rona
schaute sich um, instinktiv verhielt sie sich wie eine
Waldkatzenmutter. Alle Sinne suchten nach Anzeichen der Gefahr. Der
Wind wurde stärker. Er duftete nicht mehr, beißend roch es
nach siedendem Hongarharz. Jetzt war sich Rona sicher. Zu ihren
Kindern gewandt wollte sie eine Warnung rufen. Aber der Klang ihrer
Stimme wurde von einem rasenden Donner übertönt. Olkor
richtete sich ein wenig auf und blickt zur Mutter. Verloren und
winzig stand sie, die Augen von Angst geweitet und den stummen Schrei
auf den Lippen, vor einer baumhohen Walze aus blauen Feuer. Sie
zerfällt im Augenblick zu einem Schatten grauer Asche und wird
verweht. Die Hände schützend über seinen und den
Körper seiner Schwester erhoben schloss der Knabe die Augen und
erwartete den sengenden Strom aus dem alten Wald. Er hörte das
Dröhnen, dem Trampeln einer Herde von tausenden wilder Hyfen
gleich, über sie fegen. Doch das Tosen zog weiter ohne das die
Glut seinen Körper versengte. Kein Luftzug des Feuersturmes auf
seiner Haut. Olkor verharrte minutenlang ohne jede Regung. Vorsichtig
hob er die Augenlider. Noch immer war er mit erhobenen Armen halb
über seine bewusstlose Schwester gebeugt. Er spürte unter
seinen Knien wie zuvor das Gras. Eine kreisrunde Insel um die beiden
in einer grauen Aschewüste. Kein Baum, kein Strauch, kein noch
so leises Geräusch. Zwei Menschen im Nichts.